Vergeben, vergessen, verzeihen?
Vergebung ist oft ein heikles Thema.
Besonders, wenn mir jemand sagt, ich sollte/müsste/könnte doch jemand anderem vergeben.
Wikipedia sagt dazu u.A.:
Vergebung ist die mentale Reaktion einer Person auf ein tatsächliches oder angenommenes Fehlverhalten Anderer, durch die der Vergebende – unabhängig von Fragen nach Schuld, Schwere oder den Folgen der Tat – die menschliche Unvollkommenheit anerkennt, um das Geschehene akzeptieren zu können.
Unter Vergebung verstehen wir oft: Wenn ich es vergebe, dann war das, was passiert ist, nicht schlimm. Dann war es okay, dass es passiert ist. Es war aber NICHT okay und daher kann und will ich das auch nicht vergeben (und vergessen).
Dabei übersehen wir, dass es der anderen Person oft völlig wurscht ist, ob wir ihr vergeben.
Vielleicht weiß sie auch gar nicht, worum es geht.
Oder hat das Geschehen ganz anders in Erinnerung.
Wir halten aber an dem Groll fest, weil wir wollen, dass die andere Person darunter leidet.
Der einzige, der wirklich leidet, ist in den allermeisten Fällen man selbst.
Das ist, als halten wir ein Stück heiße Grillkohle in der Hand - in der Hoffnung, dem anderen tut es weh.
Das funktioniert so aber nicht.
Wir Menschen funktionieren so nicht.
Zum Glück.
Dann wären wir ein Opfer der Umstände.
Dem Verhalten anderer ausgeliefert.
Manchmal wollen wir auch jemandem vergeben, um etwas zu erreichen.
Vielleicht haben wir gehört: du musst vergeben, damit du frei sein kannst.
Also vergebe ich – widerwillig und so gut ich kann – der Person, damit ich frei sein kann.
Vergeben kann man nur mit dem Herzen.
Oder durch Erkenntnis.
Sobald Vergebung an eine Bedingung geknüpft ist, ist es nur ein theoretisches Konzept. Und meist sinnlos.
Vergebung „vom Kopf her“ funktioniert nicht.
Ich erinnere mich gerade an eine Situation, die in der 6. oder 7. Klasse auf dem Schulhof passiert ist.
Wir haben rumgegemmelt, also Quatsch gemacht, und mir wollte jemand in den Hintern treten. Ich habe es kommen sehen und mir noch schnell die Hand davor gehalten – mit dem „Erfolg“, dass derjenige meinen Daumen getroffen hat. Der Daumen wurde sofort dick und ich durfte damit zur Untersuchung ins Krankenhaus (wo sich alle köstlich über das „wie“ amüsiert haben.) Es war nichts Schlimmes und ich hatte das schnell wieder vergessen.
Mehr als 20 Jahre später entschuldigt sich jemand mit schlechtem Gewissen bei mir dafür, dass er mir damals den Daumen verletzt hat.
An die Geschichte erinnerte ich mich noch, aber wer das war… das hatte ich nicht mehr auf dem Schirm.
Er schon.
Vielleicht hat er immer mal wieder dran gedacht.
Jedenfalls hatte er ein schlechtes Gewissen und hat es lange mit sich rumgetragen.
Ich hatte es schon total vergessen und war ihm nie böse.
Es hätte aber auch genau andersherum sein können.
Ich wäre ihm immer noch böse und er könnte sich an nichts mehr erinnern. Dann hätte ich die ganze Zeit „vergeblich“ an meinem Groll festgehalten.
Er hätte jedenfalls nichts davon mitbekommen.
Seit ich mich mit den 3 Prinzipien befasse, hat sich mein Verständnis über Vergebung total verändert.
Everyone is doing the best they can, giving the thinking they have, that looks real to them.
Sydney Banks
Jeder tut immer das Beste anhand des Denkens, das für ihn in diesem Moment real erscheint.
Eigentlich (und auch uneigentlich) gibt es gar nichts mehr zu vergeben
wenn ich sehen kann, dass jeder immer das Beste gibt, was aus seiner aktuellen Bewusstseinsstufe heraus möglich ist.
Er kann nicht anders.
Wenn er nicht anders kann, was gibt es dann zu vergeben?
Das heißt nicht, dass ich alles hinnehmen, akzeptieren oder gut finden muss.
Überhaupt nicht.
Es heißt nicht, dass keine Strafe nötig ist, wenn Gesetze übertreten wurden.
Es heißt auch nicht, dass ich keine deutlichen Grenzen setzen kann.
Derjenige trägt die Verantwortung dafür.
Muss mit den Konsequenzen des Handelns leben.
Aber wenn ich weiß, dass „die Sache“ passiert ist, weil die Handlung für denjenigen in dem Moment der nächste, logische Schritt war und nichts mit mir zu tun hatte – was soll ich dann vergeben?
Ich weiß ja von mir selbst, wie ich mich verhalte, wenn ich in meinem Gedankenstürmen feststecke.
Wenn ich das sehen kann, auf einer tieferen Ebene, dass der andere in dieser Situation nicht anders handeln konnte (denn sonst hätte er es getan), dann ist alles okay.
Und wenn alles okay ist, dann gibt es nichts zu vergeben oder verzeihen.
Vergebung ist ja nur nötig, wenn etwas „mit (böser) Absicht“ passiert ist.
Wenn es versehentlich, unverschuldet, aus einem Unfall oder Unglück heraus geschieht, dann kommt das Thema Vergebung meist gar nicht auf.
Vergebung kommt nach der Form.
Durch Gedanken.
Vergebung ist ein Konzept.
Dieses Verständnis der Drei Prinzipien existiert vor der Form.
Wenn ich durchschaue, was hinter „der Sache“ steckt, die Unschuldigkeit erkenne, mit der sie passiert ist, dann geschieht Vergebung automagisch - zeitgleich mit dem Erkennen.
Es ist nichts, was ich aktiv tun kann.
Es passiert einfach.
Automagisch.
Ich möchte übrigens nicht den Anschein erwecken, als würde mir das in der Situation immer gelingen und ich würde es direkt erkennen.
Es gibt auch Situationen, in denen es mir wirklich schwerfällt, es so zu sehen.
Zu erkennen, dass es so sein muss, weil wir Menschen so ticken.
Wenn ich in meinem Film bin, dann bin ich mittendrin und kann ihn nicht durchschauen.
Aber hinterher gelingt mir das immer besser.
Und dann gibt es nichts mehr zu „vergeben“.
Weil alles gut ist.
Und immer gut war.
Wie stehst du zum Thema Vergebung?
Hast du schon mal versucht, jemandem zu vergeben? Wie gut hat das für dich funktioniert?
Oder fällt dir eine Situation ein, in der du jemandem wirklich vergeben hast? Wie hast du das gemacht?
Ich lade dich ein, darüber zu reflektiere und freue mich auf deine Antwort.
Vergeben ist sicher wichtig, um sich selbst zu ändern!!
Ich würde es so ausdrücken: es ist wichtig, um die Sicht und das Empfinden auf das, was geschehen ist, zu ändern.