Geteiltes Leid, doppeltes Leid?
Es heißt ja eigentlich: geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude.
Was wäre, wenn das gar nicht stimmt und geteiltes Leid sich auch verdoppelt oder vervielfacht?
Manchmal ist es schön, sich Dinge von der Seele zu reden.
Es kann sich erleichternd anfühlen.
Das ganze Zeug ist raus aus dem Kopf.
Oder nicht?
Kann es sein, dass wir es länger im Kopf behalten, wenn wir mit anderen darüber sprechen?
Wir hören deren Sicht darauf.
Wir sind uns vielleicht einig: SO geht das auf keinen Fall.
Unser Gegenüber bestätigt uns, dass wir im Recht sind.
Es ist total klar, wie blöd das alles ist.
Es wird zu einem viel größeren Ding.
Ein Beispiel.
Denk an deinen letzten Streit oder Ärger zurück.
Woran erinnerst du dich?
Frag dich:
Habe ich mich darüber mit jemandem ausgetauscht?
Die Wahrscheinlichkeit ist groß.
Je mehr wir uns gedanklich mit einem Streit oder Ärger (oder was auch immer) beschäftigen, desto „größer“ machen wir ihn damit.
Wir stecken Energie hinein.
Immer und immer wieder.
Wie bei einem Luftballon, den wir mit Luft aufpusten, pumpen wir diesen Streit oder Ärger dann mit unseren Gedanken auf.
Jedes Mal, wenn wir mit jemandem darüber sprechen, machen wir unseren „gedanklichen Streitballon“ größer, denn jedes Gespräch gibt ihm noch mehr Energie.
Immer und immer wieder.
Unbewusst und unschuldig, denn das ist meist überhaupt nicht das, was wir wollen.
Sobald wir gedanklich Revue passieren lassen, was geschehen ist … schwupps kommt neue Luft rein und die Sache nimmt in unseren Gedanken noch mehr Platz ein.
Während wir darüber sprechen oder nachdenken, fühlen wir uns nicht gut.
Wir fühlen uns „wie damals in der Situation“, was wir als Zeichen und Bestätigung sehen, dass da irgendwas total schief gelaufen ist.
Und dass es wirklich etwas zu tun/klären/aufzulösen/verarbeiten gibt.
Was wäre, wenn da ein Missverständnis vorliegt?
Wenn das Gefühl „einfach nur“ ein Begleiter des Gedankens ist?
Also eine Bestätigung dafür, "wo" wir mit unseren Gedanken sind.
Nicht mehr, und nicht weniger.
Keine Bestätigung für die Wahrheit der Gedanken.
Mit jedem „Tun“ – dazu zählt jede Beschäftigung damit - pusten wir wieder mehr Luft in etwas, was eigentlich schon lange erledigt war.
Wir reanimieren, was wir „eigentlich“ vergessen möchten.
In jedem Gespräch darüber mit anderen.
Wann immer wir darüber nachdenken.
Es ist auch nichts falsch daran.
Wir können das machen.
Wir müssen es aber nicht tun.
Je klarer uns ist, was in uns passiert, wenn wir uns mit dem, was wir „eigentlich“ aus dem Kopf haben möchten, beschäftigen, desto weniger oft werden wir es machen.
Ganz natürlich.
Wenn uns das nicht bewusst ist, dann unterhalten wir uns darüber und es sieht nach einer guten Idee was.
… und führt auch dazu, dass wir „die Sache“ viel besser in Erinnerung behalten.
Nehmen wir den Streit oder Ärger, der dir eingefallen ist.
Vielleicht gab es danach auch andere Streitigkeiten oder anderen Ärger, die/den du aber schon längst wieder vergessen hast, weil du diese Streitballons nicht länger mit Energie füllst.
Sobald wir den Streit nicht gedanklich wieder aufwärmen, ist er weg.
Abgehakt.
Vergessen.
… bis wir uns wieder darum „kümmern“, weil wir noch etwas klären wollen oder das Verhalten unmöglich war oder wir vermeiden wollen, dass es noch mal passiert oder oder oder.
Damit nehmen wir uns und unserem System die Chance, es einfach zu vergessen.
Kann also etwas dran sein an: geteiltes Leid, doppeltes Leid?
Ich lade dich ein, für dich zu schauen:
Stimmt das?
Tue ich mir damit einen Gefallen, wenn ich mich immer wieder mit solchen Situationen und Dingen beschäftige?
Ich freue mich, wenn du deine Erkenntnisse im Kommentar mit uns teilst.
Händegeklapper (also Applaus ;-)) für diesen Text, der mir sowas von aus der Seele spricht mit vielem Dank für den fabelhaften Impuls, sich das selbst (und womöglich auch im Gespräch mit Anderen) immer wieder freundlich zu vergegenwärtigen!!
Ich vermeide sowas wenn es mir meinerseits auffällt und entziehe mich möglichst bei Anderen – meist mit wenig oder ohne Kommentar.
Meine Erfahrung ist nämlich, dass das im Kontakt mit anderen Menschen, welche sich „Luft machen“ wollen oft als Abweisung interpretiert wird, aber ich merke, dass mir das im von Dir beschriebenen Sinn so gar nicht gut tut.
Herzlichst von EvaRia
Liebe EvaRia,
wie schön, dass dir das auch schon aufgefallen ist.
Mir scheint, dass je präsenter ich in der Situation bin, desto weniger muss ich bewusst „tun“, also mich bewusst abwenden oder entziehen. Ich kann die andere Person „einfach lassen“, ohne darauf einsteigen zu müssen.
Und dadurch gebe ich den anderen eine neue Möglichkeit, das Thema auch „gut sein“ zu lassen.
Manchmal wird meine Zustimmung auch „vermisst“ und angesprochen. (Du sagst ja gar nichts dazu…) Wenn das geschieht, dann sage ich ein paar Worte dazu, warum ich das nicht hilfreich finde.
Aber auch da gibt es kein allgemeingültiges Rezept.
In der Situation mache ich einfach, was gerade „dran“ ist.
Liebe Grüße
Michaela
Liebe Michaela,
danke für deinen Beitrag. Das ist auch meine Erfahrung. Über ein Problem oft zu sprechen, hat es oft schwerer gemacht, ich mich wahrscheinlich stärker damit identifiziert. Die Beschäftigung mit den 3 Prinzipien hilft mir, es da sein zu lassen und auch wieder gehen zu lassen. Mich nicht weiter damit zu beschäftigen. Ein mühsames Verlernen am Ende einer Gesprächstherapie, aber sehr wohltuend.
Ich würde mich freuen, aufgrund deiner Erfahrung mit Ängsten, da noch mehr von dir zu hören. Freue mich schon auf die Buchbesprechung- Real. Merke irgendwie eine subtile Angst, es zu lesen. Ich wollte es eigentlich vor dem Beginn lesen. Bin gespannt, wann es der Fall sein wird.
Ganz liebe Grüße
Barbara
Liebe Barbara,
wie schön, dass dir das „in Richtung der 3 Prinzipien gucken“ hilft, Dinge einfach da sein zu lassen.
Anfangs fand ich das verlernen auch mühsam, aber auch dieses Empfinden hat sich verändert. Es wurde schnell natürlich.
Bezüglich der Ängste kann ich keine große „Erfolgsmeldung“ verkünden, aber sie sind für mich generell nicht mehr so relevant. Und es ist (meistens) okay, dass sie da sind. Oft denke ich nicht daran – bis ich dann z.B. eine Frage dazu gestellt bekomme 😉 oder in einer Situation bin, in der die Angstgedanken da sind und real aussehen.
Dann sind schnell Gedanken da wie: „das hätte schon anders sein müssen“, „ich habe die 3Ps nicht verstanden“, „ich mache was falsch“, … und manchmal brauche ich einen Moment, um zu merken: Moment mal. In welche Richtung bin ich gerade unterwegs?
Auf die Expeditionen in die REALität freue ich mich auch schon.
Die subtile Angst wegen des Buchs kann ich nachvollziehen. Vielleicht hast du schon gelesen, dass das Buch dich ganz schön „durchschütteln“ kann. Dein Innerstes weiß es. Und oft macht uns „das Ungewohnte“ Angst, weil wir nicht erkennen können, dass das Leben uns IMMER trägt und wir IMMER den nächsten Schritt kennen. Vielleicht nicht den übernächsten, aber den nächsten.
Liebe Grüße
Michaela
Liebe Michaela,
wenn es sich um kleinere Ärgernisse handelt, dann erlebe ich das auch so, wie Du es beschrieben hast.
Hat sich jedoch etwas ereignet, dass mich gaaanz tief trifft in einem alten Schmerz, dann funktioniert das bei mir mit dem Vergessen leider nicht.
Ich habe einen konkreten Fall von einem massiven Trigger-Auslöser-Erlebnis 2015.
Zunächst hatte ich auch gehofft, dass sich die Ladung irgendwann von alleine reduzieren würde, wenn ich nicht daran denke.
1-2 mal jährlich machte ich seitdem kurze Stichproben, und dachte kurzzeitig bewusst nochmal an die Person, die meinen emotionalen Tilt damals ausgelöst hat, um festzustellen, wieviel Ladung noch drauf ist.
Und jedesmal merkte ich, wie der Adrenalinspiegel in Sekunden wieder hochging.
Jetzt gehe ich anders dran, indem ich alte Emotionen Stück für Stück aus meinem System löse mit dem Emotionscode. Ich bin noch mitten drin im Prozess, habe aber den Eindruck, dass die Ladung nun tatsächlich abnimmt.
Ich stimme Dir aber generell zu, dass es nicht unbedingt immer hilfreich ist, erfahrenes Ungemach ausgiebig im Gespräch wieder und wieder ablaufen zu lassen.
Liebe Grüße
Sabine
Liebe Sabine,
wie klasse, dass du deiner Intuition folgst und den Emotionscode anwendest. (da fällt mir ein, dass ich den Magneten auch noch in einer Schublade liegen habe…)
Wenn es dir gut tut, dann ist es auch richtig.
Meine Sicht hat sich in den vergangenen Jahren total geändert.
Für mich gibt es z.B. inzwischen keinen „alten Schmerz“ mehr.
Dass der Adrenalinpegel in dem Moment, wenn du an diese Person denkst, hochschnellt, ist total nachvollziehbar.
Du denkst ja die „alten Gedanken“ und an die „alte Geschichte“ und schwups sind diese Emotionen jetzt da.
Was, wenn es gar nichts mit „damals“ oder der Person zu tun hätte, sondern nur mit den Gedanken im Hier und Jetzt?
Je gefährlicher / schlimmer es uns erscheint, diese Emotionen wahrzunehmen, desto logischer ist es, dass wir vermeiden wollen, sie zu erleben.
Sobald uns klar wird, dass die Emotion an sich gar nicht gefährlich ist, desto „okayer“ ist, wenn sie da ist. Und desto schneller verschwindet sie auch wieder.
Paradox.
Weil wir nicht daran festhalten, indem wir dagegen ankämpfen oder sie loswerden wollen.
Ich habe auch Themen / Gebieten, in denen ich das (noch?) nicht sehen kann und wo ich bestimmte Emotionen vermeide. Wo ich quasi sofort auf „Autopilot“ schalte und reagiere, wie man reagiert, wenn die Emotion nach Gefahr aussieht … 🤷♀️
Aber ich bin damit okay (zumindest meistens).
Und für mich macht es keinen Sinn, etwas dagegen oder damit zu tun.
Aber wenn du den Eindruck hast, die Ladung wird geringer, dann ist es gut, dem inneren Impuls zu folgen und zu tun, was sich richtig anfühlt.
Vielleicht kommt irgendwann ein anderer Impuls, dem du wieder folgen kannst. Vielleicht auch nicht.
Liebe Grüße
Michaela
Liebe Michaela,
ich musste etwas über Deinen Kommentar nachdenken, da er gehaltvoll und anregend ist. Vielen herzlichen Dank dafür.
Tatsächlich muss ich Dir recht geben im Hinblick auf die Formulierung „alter Schmerz“. Schmerz wird – wie jedes andere Gefühl – nur im Hier und Jetzt wahrgenommen.
Die korrektere Formulierung wäre: Eine spezifische Energie-Signatur, die sich aufgrund eines emotional überlasteten Nervensystems, das in oder nach einer Erfahrung nicht ausreichend reguliert werden konnte, speichert sich im System ab und tritt wieder in unsere bewusste Erfahrung, wenn wir entweder an den ursprünglichen Auslöser selbst denken oder wenn sich etwas in unserem Leben ereignet, das automatisch diese Erinnerung aktiviert.
Ich habe auch über Deine Anregung nachgedacht. „Was, wenn es gar nichts mit „damals“ oder der Person zu tun hätte, sondern nur mit den Gedanken im Hier und Jetzt?“
Meine Erfahrung sagt da etwas anderes. Beim jährlichen Überprüfen des emotionalen Ladungsstandes habe ich bewusst eine andere Nicht-Opfer-Perspektive in die Fragestellung gebracht. Meine Prüf-Frage war: Wie geht es mir mit dieser Person, die mir damals mit ihrem Verhalten etwas Wichtiges über mich selbst erfahren lassen wollte?
Dennoch stieg der Adrenalinspiegel, obwohl ich in der Fragestellung nicht nur keine Verurteilung der Person, sondern sogar eine versuchte Wertschätzung eingebracht habe.
Da diese spezifischen Trigger-Reaktionen aber nicht nur kommen, wenn wir bewusst an den ursprünglichen Auslöser denken, sondern auch, wenn sich etwas ereignet, das Ähnlichkeiten mit der Erfahrung aufweist ohne dass wir auch nur einen Moment bewusst darüber nachgedacht haben, deutet dies für mich darauf hin, dass etwas in meinem Energie-System aus der Balance ist.
Ich finde Deinen Hinweis sehr nützlich, dass sich innerer Frieden kaum einstellen kann, wenn wir etwas in uns weghaben wollen.
Es geht mir vor allem um in die Balance kommen, nicht darum Emotionen generell nicht haben zu wollen.
Danke Dir ganz herzlich für Deine Antwort und die Anregungen, die bei mir nochmal zu mehr Klarheit geführt haben.
Ich wünsche Dir einen schönen und auf allen Ebenen wohltuenden Urlaub! 🙂
Sabine
Liebe Sabine,
danke für deine ausführliche Antwort.
Wie schön, dass du aus unserem Austausch etwas Klarheit mitnehmen konntest.
Ich habe schon x Anläufe genommen, darauf zu antworten, aber nichts passte so wirklich.
Spannend finde ich, dass ich deine neue Beschreibung als total kompliziert empfinde, obwohl ich mir sicher bin, dass ich das vor einiger Zeit noch unterschrieben und ganz viel genickt hätte.
Aus einem Impuls heraus entstand dieses Video https://youtu.be/8tEagH08mY0, von dem ich mir jetzt gar nicht mehr so sicher bin, ob du etwas damit anfangen kannst.
Ich poste den Link einfach trotzdem.
Danke für deine lieben Wünsche.
Liebe Grüße
Michaela
Ein sehr cooler und so hilfreicher Beitrag. Vielen Dank, liebe Michaela.
Neben dem Wiederholen und „Fundamentieren“ des Leids sehe ich noch den „Geteilten“ für wichtig an, also mit wem/was ich mein Leid teile: ein Stück Papier, auf dem ich mein Leid aufschreibe, kann vielleicht ein Teil des Leids aufnehmen (muss aber nicht). Ein empathischer Zuhörer könnte das Leid umlenken in ein gutes, annehmendes Gefühl. Ein Schrei im Wald könnte mein Leid teilen und „in Luft auflösen“. Vielleicht steckt auch in der Wahl des Empfängers / der Empfängerin meine Verantwortung ….
Lieber Matthias,
das ist ein wichtiger Punkt, wirklich genau hinzuspüren: mit wem teile ich es?
Es aufzuschreiben kann sich ähnlich anfühlen, wie „gehört werden“ und erleichtern.
Man kann es auch aufschreiben und damit „tiefer einsteigen“ …
Eine Faustregel könnte sein, sich zu fragen: fühlt es sich besser oder leichter an? Oder eher nicht?
Liebe Grüße
Michaela